"Crime Scene #B"
Fotogramm auf Gelatinesilberpapier
rückseitig auf dem Aufkleber betitelt, datiert, nummeriert und signiert
Jan Tichys Berliner Ausstellung Weight of Glass in der Galerie Kornfeld im Herbst/Winter 2016/17 beruht auf umfangreichen Recherchen des Künstlers in Berlin und Dessau zu László Moholy-Nagy, einem der innovativsten Künstler und Kunstlehrer im frühen 20. Jahrhundert, und dessen erster Frau Lucia Moholy. Beide Künstler waren am Bauhaus tätig, beide mussten nach 1933 Deutschland verlassen.
Lucia Moholy war Fotografin und hat mit ihren Aufnahmen aus den Jahren vor 1933 unser Bild vom Bauhaus in Dessau ganz entscheidend mitgeprägt, fotografierte sie doch sowohl die Gebäude, also das Bauhaus selbst und die Meisterhäuser, als auch die vielen unterschiedlichen Kunst-, Design- und Gebrauchsgegenstände, die am Bauhaus entstanden sind.
Lucia Moholy war lange die einzige ausgebildete Fotografin am Bauhaus, sie war mit allen technischen Details der Fotografie vertraut und hat im Keller des gemeinsam mit ihrem Mann, dem Bauhausmeister László Moholy-Nagy bewohnten Meisterhauses in Dessau die erste Dunkelkammer am Dessauer Bauhaus eingerichtet. Dort fanden wohl auch die ersten Experimente mit dem Fotogramm statt - der Fotografie ohne Kamera. Dabei nutzt man die Eigenschaft des Fotopapiers, auf Licht zu reagieren, verzichtet aber auf den Umweg über die Kamera. Das lichtempfindliche Fotopapier wird also nicht mit dem Negativ eines zuvor mit der Kamera fotografierten Motivs belichtet, sondern ein Gegenstand selbst wird unmittelbar auf das lichtempfindliche Papier gelegt und dann belichtet. Danach wird das Fotopapier ganz normal entwickelt und fixiert. Das Bild, das dann entsteht, ist ein Abbild des Gegenstandes, der auf dem Fotopapier lag - allerdings abstrahiert, denn das Fotopapier ist ja dafür ausgelegt, aus einem Negativ ein Positiv zu machen. Was auf dem entwickelten Photogramm Hell ist, war in der Realität Dunkel - und umgekehrt.
Die Moholys experimentierten bei ihren Fotogrammen mit dem, was sie fanden - Haushaltsgegenstände wie Kämme oder Scheren, aber auch ihre Körper oder Teile davon wie beispielsweise ihre Hände oder ihre Gesichter. Jan Tichy dagegen arbeitet in seinen Fotogrammen auf Papieren im Format 18 x 24 cm mit kleinen Glasplatten im Format 9 x 12 cm. Eben diese beiden Formate, 9 x 12 cm bzw. 18 x 24 cm, sind charakteristische Formate großformatiger fotografischer Negative, wie sie auch Lucia Moholy am Bauhaus verwendet hat.
Da Lucia Moholy jüdischer Abstammung und nach der Trennung von László seit 1929 mit einem kommunistischen Reichstagsabgeordneten und späteren Widerstandskämpfer verheiratet war, emigrierte sie im Jahr 1933, bald nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Ihren gesamten Bestand an Negativen, die damals noch mit einer lichtempfindlichen Emulsion bestrichene Glasplatten in den Formaten 18 x 24 cm und 9 x 12 cm waren, musste sie in Deutschland zurücklassen. Diese blieben zunächst in der Obhut ihres Ex-Mannes, der sie bei seiner Flucht aus Deutschland an Walter Gropius weitergab. Lucia Moholys Bemühungen, die Negative nach England zu holen, scheiterten, und so glaubte sie ihre Negative und damit auch ihr bis 1933 entstandenes Werk verloren. Nach Kriegsende wurde ein Teil der Bilder von Gropius ohne Nennung der wahren Urheberin der Aufnahmen verwandt, und erst viele Jahre später erhielt Lucia nach einem Rechtsstreit wenigstens einen Teil ihrer Negative wieder. Etwa 330 ihrer Glasplattennegative sind allerdings bis heute verloren. Die Fotogramme von Jan Tichy, die mit Glasplatten der Größe 9 x 12 cm auf einem Fotopapier im Format 18 x 24 cm arbeiten, sind eine Hommage an Lucia Moholy.
Jan Tichys Auseinandersetzung mit dem Bauhaus und speziell mit Lucia Moholy dauert bis zum heutigen Tag an und wird unter anderem auch in eine Ausstellung in der Kunsthalle Praha im Jahr 2022 münden, die, in Kooperation mit Dr. Robin Schuldenfrei vom Courtauld Institute, das gesamte fotografische Werk von Lucia Moholy erstmals der Öffentlichkeit vorstellen wird. Da vermutlich nicht alle Werke wiedergefunden werden können, werden neben den Originalen von Lucia Moholy auch künstlerische Interventionen von Jan Tichy Teil dieser Präsentation sein.
(Galerie Kornfeld Berlin, 2016)