"Huangshan Mountains, Study 20, Anhui, China"
Gelatinesilberabzug, Sepia-getont auf Karton
vorderseitig signiert, datiert und nummeriert, rückseitig signiert, datiert, betitelt und nummeriert
Michael Kenna fotografiert seit rund fünfzig Jahren Bäume. Seine Fotografien, die oft in der Dämmerung oder im Dunkel der Nacht aufgenommen werden, konzentrieren sich auf die Interaktion zwischen der natürlichen Landschaft und den vom Menschen geschaffenen Strukturen. Mit langen Belichtungszeiten halten seine Fotografien Dinge fest, die ansonsten nicht sichtbar sind.
Der Blick auf einen Baum sorgt für Ausgeglichenheit und Entspannung. Die Bäume, die Kenna fotografiert, sind zufällige Begegnungen. Er beschreibt sie als seine stillen Freunde, mit denen er sich gerne unterhält. Bei seiner Herangehensweise geht es ihm um das Sehen und "Zuhören", bis sich ihr ganzer Charakter vor seinen Augen entfaltet. Der Titel einer seiner Fotografien, Philosopher's Tree, steht für diese Haltung. Es ist eine Begegnung, die sowohl physisch als auch intellektuell und ästhetisch ist, und wenn das Licht genau richtig ist, gewinnen Betrachten und Fotografieren eine fast metaphysische Dimension.
Kenna kehrt immer wieder zu einigen Bäumen zurück, insbesondere zum Kussharo Lake Tree auf der Insel Hokkaido in Japan, den er zwischen 2002 und 2013 regelmäßig fotografiert hat. Es gibt zahlreiche Studien über ihn, und mittlerweile ist er in Japan auch als "Michael Kenna's Tree" bekannt. Im Jahr 2013 wurde der Baum gefällt, wovon ein letztes Foto zeugt.
Zeit spielt in Kennas Werk eine wichtige Rolle, nicht nur in der Auseinandersetzung mit seinen Themen, sondern auch bei der Realisierung seiner Arbeiten. Er verwendet die analoge Fotografie mit dem traditionellen Medium der Silbergelatineabzüge und ist vor allem für die intime Größe seiner Fotografien und die hervorragenden handgefertigten Abzüge bekannt, die er in seiner eigenen Dunkelkammer herstellt. "Nichts ist jemals zweimal dasselbe, weil alles immer für immer weg ist, und doch hat jeder Moment unendliche fotografische Möglichkeiten." (Michael Kenna)
(Galerie Albrecht, Berlin)
Keine Reise zu weit
Die Baumbilder von Michael Kenna
Keine Reise war Michael Kenna zu lang, kein Objekt zu weit entfernt, um seiner Leidenschaft für Bäume zu frönen, meist für nackte Bäume, an denen kein einziges Blatt mehr haftet.
Nichts ist im Bild, das den Blick ablenken könnte, weder Haus noch Straße, kein Mensch und auch kein Tier. Hin und wieder schwebt eine Wolke am Himmel, der so grau-weiß ist wie der Schnee, der alle Spuren auf der Erde verweht hat. Zuweilen sieht es so aus, als würde der irgendwo in Europa, Amerika oder Japan stehende Baum frei in der Luft schweben - oder zumindest ein paar Zentimeter über dem Hügel, auf dem er ganz einsam steht.
Kenna verzichtet auf Jede digitale Bearbeitung
Dennoch erkennt man die Komposition, wenn etwa Bäume von beiden Seiten einen schmalen Kanal säumen und die Kamera haargenau in der Mitte über dem Fließ positioniert wurde. Die Bäume ragen in den Himmel und zugleich spiegelbildlich in die Tiefe des Wassers. Es ist eine meisterhafte Aufnahme, vielleicht die schönste der 36, die aktuell in der Galerie Albrecht bewundert werden können.
Fast immer hat der heute in Seattle lebende, 1953 im englischen lancashire geborene Fotograf, dessen Serie "Abruzzo" den Besuchern dieser Galerie noch gut in Erinnerung ist und dessen Arbeiten in zahllosen öffentlichen wie auch privaten Sammlungen vertreten sind, das quadratische Format zwanzig mal zwanzig für seine Drucke gewählt. Für das Kanalbild und den ähnlich komponierten Blick auf einen schnurgeraden Weg zwischen Baumreihen bot sich besser ein Hochformat an.
Manchmal wünscht man sich mehr Tiefenschärfe
Es spricht für Michael Kenna, dass er bis heute konsequent analog arbeitet. Digitale Bearbeitungen oder im Computer generierte fotografische Schaustücke sind ihm ein Gräuel. Seine Werkstatt ist die Dunkelkammer, wo er die Helligkeitswerte des schwarzweißen Negativs noch verstärken oder mildern kann, mehr nicht. Ist in der Landschaftsfotografie ohnehin die Natur selbst stilbildend am Werk, so trifft dies auf seine Arbeiten im besonderen Maße zu. Sie lassen weg oder blicken an dem vorbei, was hier nicht interessiert.
Dabei droht freilich, man kann es bedauern, das Profil der Landschaft nivelliert zu werden. Der Horizont verschwimmt, man wünscht sich etwas Tiefenschärfe. Auf die Weise setzt Kenna seinen ganz eigenen Kontrapunkt zur Tradition der Landschaftsfotografie.
Ein größerer Gegensatz als den zu den großartigen Panoramen des Amerikaners Ansel Adams (1902–1984) von den uralten Baumriesen des Yosemite National Parks in Kalifornien, die in den Dreißigern des vorigen Jahrhunderts Amerika die Augen für die gefährdete Schönheit des Landes öffneten, lässt sich kaum denken.
Bilder lassen die Lebenskraft der Bäume spüren
Stilistisch näher könnten Kenna die Baumbilder des Franzosen Charles Negre (1820–1880) stehen, dem es die Pinien mit ihren schirmartig gewachsenen Kronen, gefunden in der Nähe von Cannes, antaten. In beiden Fällen meint man, etwas von der Lebenskraft der Bäume zu erkennen, aber auch - bei Negre - den wirtschaftlichen Nutzwert der Landschaft zumindest zu ahnen. Beide Aspekte liegen Kenna vollständig fern. Er feiert förmlich den Stillstand der Natur, für die hier die Bäume stehen. Die Bäume könnten schon lange abgestorben sein. Sind seine Fotografien nicht Traueranzeigen der Natur, von schwarzen Holzleisten gerahmt? Aber auch die Trauer hat ihre eigene Schönheit, die Michael Kenna präzise beschwört.
(Hans-Jörg Rother, Tagessplegel, 13. November 2023)