ohne Titel
Gelatinesilberabzug
rückseitig signiert und datiert
Elfriede Mejchars Schere stellt frei und trennt Umrisse so lange von der Fläche, bis sich etwa eine Hand verschieben lässt und schwarze Spuren über das Dekollete zieht. Der Akt des Herauslösens, Herausreißens, Verschiebens oder Vertauschens stört die ursprüngliche Perfektion, eine Kollision verschiedener Elemente, die bis dahin in keiner gemeinsamen Einheit steckten, findet statt – wie sie charakteristisch für die Collage ist: Ein Kopf schwebt körperlos vor schwarzem Grund, ein Leopard hat seine Pranke in einem Auge versenkt, ein Mund spuckt Worte, ein anderer schluckt ein Auge. Mann und Frau treffen aufeinander, schwarz und weiß. Gesichter verformen sich zu flachen Masken, durch deren Öffnungen der Hintergrund dringt, offene und geschlossene Augen wechseln einander ab oder werden von einem dritten Über-Auge überragt, das aber weniger als moralische Instanz, denn als forderndes Es agiert. Haben Augen und Mund das Gesicht endgültig verlassen, tummeln sie sich etwa vor einer Mauer. "Ich baue mir Bilder an der Wand, aus Materialien, die in der Öffentlichkeit liegen, aus dem, was öffentlich hergezeigt wird, entblöße aber die makellose Schönheit, die uns immerfort als Ideal unter die Nase gehalten wird, indem ich sie zerstückle oder verdecke. Es sind böse Collagen. Kurzfristige, lustvolle Eingriffe, die nach dem Abfotografieren wieder dahin sind."1 Sämtliche der rund 300 Collagen sind nur gelegt oder lose zusammengesteckt und werden nach dem Fotografieren wieder auseinandergenommen, einzelne Elemente wie eine grüne Schlange oder eine Hand mit Pistole bleiben im Repertoire, andere werden schlicht entsorgt.
(Ruth Horak, "Vom Zusammenfall der Gegensätze in der Phantasie – Elfriede Mejchars Arbeiten aus dem Atelier", in: Elfriede Mejchar. Fotografie, Weitra 2014, S. 142ff)
1
Elfriede Mejchar in: Nora Schoeller, "21 Reportagen", mit Interviews von Ruth Horak, hg. v. Alfred Fogarassy, Salzburg 2008, S. 125.