Ansicht vorne
Inv. Nr.S-0663
KünstlerWolfgang Reichmanngeb. 1962 in Villach, Österreich
Titel

"Vericon XI"

Jahr2011, vintage
Technik

Gelatinesilber Fotogramm auf Aluminium

Bildgröße121 x 101 cm
AuflageUnique
Signatur

signiert und datiert (Bleistift), Titel, Technik (Etikett) auf Kartonrückseite

Kommentar

Das hier von Wolfgang Reichmann präsentierte Ausstellungsprojekt "Vericon" hat die 6. von insgesamt 14 Stationen des Kreuzweges, „Die heilige Veronika reicht Jesus das Schweißtuch“, zum Thema. Der Legende nach wurde das dem Schweißtuch der Veronika innewohnende Wunder, des sich selbst abbildenden Antlitzes Jesu, als non manufactum, (griechisch: Acheiropoíeton) als ein nicht von Menschenhand geschaffenes Bild zu einer vera icon, zu einem wahren Bild des Herrn; ein mythologischer Dank für die Barmherzigkeit und Zivilcourage einer der Frauen, die Jesus auf seinem Weg nach Golgatha begleiteten. Das Schweißtuch der Veronika könnte neben dem berühmten Turiner Grabtuch vielleicht auch als eine der ursprünglichsten Ikonen eines fotografischen Bildes an sich verstanden werden – nach der Legende war dieses Abbild Jesu Christi bräunlich gefärbt. So erklärt es sich auch, dass die heilige Veronika unter anderem auch zur Patronin der Fotografie wurde.
Da der Entstehung eines Fotogrammes metaphorisch gesprochen wohl ein ähnlicher technischer Vorgang zugrunde liegt, der der Legende nach zur Entstehung des Abbildes Christi auf dem Schweißtuch der Veronika geführt haben könnte, erscheint die von Wolfgang Reichmann seit 1997 in seiner künstlerischen Arbeit angewendete Technik des Fotogramms geradezu ideal, um dieses Thema bildnerisch umzusetzen. Bei einem Fotogramm handelt es sich um eine der ältesten fotografischen Techniken, durch die Bilder von Gegenständen ohne die zu Hilfenahme einer Kamera zustande kommen. Dabei werden die abzubildenden Gegenstände in einem abgedunkelten Raum direkt wie Kontaktnegative auf ein Schwarz- Weiss Fotopapier gelegt. Es entsteht, in der besonderen Arbeitsweise Wolfgang Reichmanns, nach einer mehrtägigen bis mehrwöchigen Belichtungszeit und anschließender Fixierung ein, in seinen Tonwerten umgekehrtes Bild des zuvor aufgelegten Gegenstandes. Durch das Fehlen eines Negatives ist das ein weder reproduzierbares noch manipulierbares Unikat. Da Fotogramme ihre Objekte stets nur in Originalgröße wiedergeben, ergibt es sich, hier ganz bewusst eingesetzt, dass ein Kleid und ein Tuch die Fläche von vier großen (gleichzeitig belichteten) Fotopapieren benötigen, wodurch eine Unterteilung des Gesamtbildes entsteht, in der sich die Kreuzesform wieder findet.
In der europäischen Kunstgeschichte wurde die Legende der heiligen Veronika mit dem Schweißtuch immer wieder auch von sehr berühmten Künstlern thematisiert. Albrecht Dürer und El Greco seien hier nur als die bekanntesten Beispiele genannt. Es haben sich außerdem sowohl namhafte literarische und musikalische Werke, wie auch einige Filme mit diesem Thema beschäftigt. In der bildenden Kunst wurden dabei meistens entweder nur das Schweißtuch oder eine Person (meist Veronika selbst), die das Tuch mit dem Abbild Jesu Christi präsentiert, dargestellt.
Für dieses Projekt stellte sich von Anfang an die Frage: Wie kann man mit den künstlerischen Mitteln des Fotogramms diese Legende erzählen, ohne dass reale Personen in den Bildern aufscheinen? In einem Fotogramm ist ja die direkte Darstellung von Personen, bedingt durch die hier notwendigen langen Belichtungszeiten kaum möglich. Damit erschien nur ein symbolorientierter Umweg zur Auflösung dieses Dilemmas möglich: Das Fotogramm eines Kleides wurde dabei zum Symbol für die heilige Veronika, die das Schweißtuch präsentiert. Der Zufall wollte es, dass die für die Fotogramme benötigten Kleider tatsächlich von der Lebenspartnerin des Künstlers, mit Namen Veronika, stammen, wodurch nicht nur ein für den Künstler sehr nahegehender persönlicher Bezug zu dieser Arbeit entstanden ist. Wird die Arbeit doch durch die Kleider der real existierenden Veronika auch zumindest in semantischer Ebene als wahres Bild begrifflich.
Für die Darstellung des Antlitzes Christi erschien es ebenfalls nicht angebracht, dieses durch eine existierende Person darzustellen. Fotografische Bilder benötigen ja bekanntermaßen immer ein reales Objekt, das im Bild zu einem auratischen werden kann. Welche Person also hätte photographisch glaubhaft als Jesus Christus abgebildet werden können? So bot sich wieder der Umweg über eine weitere symbolische Ebene an, oder, anders gesprochen, die Flucht nach vorne in die Kunstgeschichte selbst. Nur ein bereits gemaltes, also ein doch von Menschenhand gemachtes, fiktives Bild des Herrn konnte in dieser Arbeit als Grundlage für das glaubhaft fotogrammetrische Erzählen der Legende vom non manufactum, von der vera icon, funktionieren: Das Antlitz Jesu Christi aus dem Bild der heiligen Veronika mit dem Schweißtuch, gemalt um 1580 von El Greco.
(Wolfgang Reichmann, 2011)

S-0663, "Vericon XI"
Wolfgang Reichmann, "Vericon XI", 2011
S-0663, Ansicht vorne
© Wolfgang Reichmann
S-0663, Vergleiche dazu: El Greco  (1541–1614),
Wolfgang Reichmann, "Vericon XI", 2011
S-0663, Vergleiche dazu: El Greco (1541–1614), "La Verónica con la Santa Faz", um 1580, Öl auf Leinwand, 91 x 84 cm, Museum of Santa Cruz, Toledo (ES)
S-0663, vergleiche dazu: Hans Memling (um 1433 –1494), Diptychon mit Johannes dem Täufer und der Hl. Veronika, rechter Flügel: Hl. Veronika, um 1470, Öl auf Holz, 32 x 24 cm, National Gallery of Art, Washington (US)
Wolfgang Reichmann, "Vericon XI", 2011
S-0663, vergleiche dazu: Hans Memling (um 1433 –1494), Diptychon mit Johannes dem Täufer und der Hl. Veronika, rechter Flügel: Hl. Veronika, um 1470, Öl auf Holz, 32 x 24 cm, National Gallery of Art, Washington (US)