Ansicht vorne
Inv. Nr.S-2350
KünstlerKarin Fisslthalergeb. 1981 in Oberndorf bei Salzburg, Österreich
Titel

"Echoes"

Jahr2017
Technik

Collage, gefundene Fotografien, bearbeitet auf Karton

Bildgröße65 x 50 cm
Kommentar

Das Geheimnis des Gesichts
Das menschliche Gesicht ist ein ganz besonderer Körperteil. Jedes Gesicht verfügt über dieselben Komponenten, jedoch sind diese in ihrer ähnlichen Anordnung so nuanciert, dass kaum jemals eines dem anderen gleicht. Darüber hinaus – so bemerkt der Psychiater, Verhaltensbiologe und Neurowissen-schaftler Eric Kandel – können wir uns im Vergleich zu einem vergrößerten Fingerabdruck Hunderte oder sogar Tausende Gesichter einprägen und diese in Sekundenbruchteilen wiedererkennen.1 Es ist uns selbst unmöglich, unser eigenes Gesicht direkt zu betrachten, sondern wir sind angewiesen auf Spiegel, Abbilder oder Beschreibungen. Somit ist unser Eindruck davon stets ein indirekter. Wir tragen ein Gesicht und dieses Tragen ist ein »vor sich Hertragen«.2 »Ich trage es vor mir her wie ein Geständnis, von dem ich nichts weiß, und es sind im Gegenteil die Gesichter der anderen, die mich über das meine belehren.«3 »Man schlüpft eher in ein Gesicht hinein, als dass man eines besitzt.«4 Wir lesen in  Gesichtern, fühlen uns zu den einen hingezogen, lehnen andere  wiederum ab. Sie können uns unter Drogeneinfluss oder im Wahn ent gleiten, wir haben Angst, unser eigenes zu verlieren, oder wollen uns in anderen Gesichtern verlieren, wie Roland  Barthes die Wirkung des Abbilds Greta Garbos schildert, in dem die Menschen sich verloren »wie in einem Liebestrank«. Ihr Gesicht scheint wie ein organischer, »absoluter Zustand«5, der zugleich Anziehungskraft und Unerreichbarkeit ausstrahlt. Das Gesicht ist, so Jean-Paul Sartre, »natürlicher Fetisch«.6 Es ist, bevor es zum Bedeutungsträger wird, eine weiße 
 Fläche, in die man Bedeutungen einschreibt. Das bewegungs-lose Gesicht ist zunächst Ding und nichts als eine Projektions-fläche – eine weiße Wand7 –, doch keineswegs eine zwei-dimensionale, wenn man erst beginnt, »schwarze Löcher«8 hineinzuschneiden, und dadurch eine Tiefendimension ent-steht. Das Gesicht ist mehrdimensional, opak und polyphon. Ein Typus kann »wie eine durchschimmernde Maske ein ganz anderes, verborgenes Gesicht allmählich durchblicken lassen«.9 Eine Miene wird nach und nach in eine andere übergeblendet. Wie in der Musik hallt im gegenwärtigen Aus-druck noch der vergangene nach, während bereits ein zukünf-tiger hineindringt. Das Gesicht zeigt nicht nur »die einzelnen Seelenzustände, sondern den geheimnisvollen Prozess der Entwicklung selbst«.10 Ein menschliches Gesicht existiert nicht einfach wie jenes eines Tieres, sondern es entsteht.
(aus: Karin Fisslthaler, I'll be Your Mirror. Mediale körperliche Konstruktionen als selbstrefelktive Techniken, Harpune Verlag 2019)

die gesamte Publikation: I'll be Your Mirror

 

1 Vgl. Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, München 2012, S. 335.
2 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 2005. 
3 Christa Blümlinger, Karl Sierek (Hg.), Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien 2002, S. 258.
4 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus, S. 243.
5 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964, S. 73.
6 Vgl. Christa Blümlinger/Karl Sierek (Hg.), Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, S. 258.
7 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus, S. 230.
8 Ebd.
9 Bela Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankurt/M. 2001, S. 42.
10 Ebd., S. 45.

S-2350, "Echoes"
Karin Fisslthaler, "Echoes", 2017
S-2350, Ansicht vorne
© Karin Fisslthaler / Bildrecht, Wien